NACH OBEN

AdaptPro


Neue Entwicklungen (z. B. Digitalisierung) führen zu immer stärkerer Vernetzung von Arbeitsprozessen und zu steigender Komplexität. Um eine effektive, effiziente und störungsresistente Arbeitsweise zu gewährleisten, stellt sich die Frage, wie Rollen und Prozesse in sozio-digitalen Teams aufeinander abgestimmt und situativ angepasst werden können und wie Funktionsteilung optimal implementiert werden kann. AdaptPRO untersucht diese Frage unter dem Gesichtspunkt des Vergessens als optimale Wissens- und Aufgabenverteilung zwischen menschlichen Akteuren und digitalen Systemen.

Ausgangsfragen und Zielsetzung des Projekts
Ausgangsfrage war, wie Gedächtnismodelle der psychologischen Teamforschung, sogenannte Teamkognitionen (TK), genutzt werden können, um Lösungen auf organisationaler Ebene zum effizienten Umgang mit zunehmenden Informationsmengen zu entwickeln. Dazu wurden vier Ziele verfolgt. 1) die empirische Überprüfung von Moderatoren und Auswirkungen der Wissensverteilung auf Speicherkapazität, Verhalten und Affekt auf Teamebene, 2) die empirische Analyse intentionalen Vergessens (IF) als situativer Anpassungsprozess der Aufgaben- und Wissensstrukturen an sich verändernde Umweltanforderungen, 3) die Übertragung der Befunde und Konzepte der Teamforschung auf organisationale MultiTeam/AgentenSysteme (MTS/MAS) mithilfe eines gemeinsamen interdisziplinären intentionalen Vergessensmodells sowie 4) Deren multimethodale, empirische und simulationsbasierte Validierung im Kontext komplexer und dynamischer MTS/MAS.
Beschreibung der gesamten Ergebnisse und Erkenntnisse.
Die erwartete Steigerung der IV-Kapazität durch verteiltes Wissen (Spezialisierung) wurde bestätigt (Ziel 1, Ellwart & Antoni, 2017; Timm et al., 2017; Ulfert et al., 2019). Es wurden gemeinsam Konzepte für die Auswirkung unterschiedlicher Wissensverteilungen im Rahmen des Job-Shop-Scheduling-Problems formuliert und in der agentenbasierten Simulation die Auswirkungen des IF durch Wissensverteilung auf die Effizienz von Entscheidungen und gemeinsamem Handeln in Teams aufgezeigt und untersucht (vgl. Ziele 2 und 4; Reuter, Berndt & Timm, 2017; Timm et al., 2017). Die Übertragbarkeit der psychologischen Konzepte auf Softwareagenten konnte so belegt werden (Timm et al., 2019). Zudem wurden Transformationsregeln für Softwareagenten entwickelt, welche eine Anpassung von Wissensverteilungen in BDI-Agenten ermöglichten, sodass IF als Prozess implementierbar wurde (Timm et al., 2020). Aus der Untersuchung dieses Prozesses konnten weitere Kriterien dafür abgeleitet werden, unter welchen Bedingungen Agenten eine Anpassung im Sinne des IF vornehmen sollten, um autonom vergessen zu können (Veröffentlichung im Rahmen der Dissertation Reuter steht aus).
Die vorgenannten Erkenntnisse flossen in ein formales interdisziplinäres Vergessensmodell für menschliche Teams sowie für die verteilte Künstliche Intelligenz ein, welches Formalismen, Konzepte und Bewertungskriterien für das IF enthält (Ziel 3, Reuter et al., 2018 sowie Dissertation Reuter). Für die Übertragung in komplexe organisationale Umgebungen wurde ein Trainingsszenario zur Disposition von Einsatzkräften adaptiert und als agenten- und webbasiertes Simulations- sowie Experimentframework (NFC, FCI) implementiert sowie in der Folge weiterentwickelt (Timm et al., 2020). Dieses Framework war das Ergebnis von intensiven gemeinsamen Arbeiten zur Simulation von psychologischen Konzepten und Experimenten, welche zu innovativen multimethodalen Forschungsansätzen in der Kombination von Befragung, Experiment und Simulation führte (Reuter et al., 2018).

Ausgangsfragen und Zielsetzung des Projekts
Im Projekt AdaptPro2 wurde intentionales Vergessen (Intentional Forgetting, IF) als bewusste Reorganisation der Wissensverteilung zur Erweiterung der Informationsverarbeitungskapazität (IV-Kapazität) definiert (Ellwart & Kluge, 2018). Aufbauend auf Phase 1 fokussierte AdaptPro2 auf sozio-digitale Teams aus sozialen (Menschen) und digitalen Akteuren. Die zentrale Frage war, wie in sozio-digitalen Team-Konstellationen intentionale Vergessens-Effekte erfasst, implementiert, und validiert werden können. Hierzu wurde das IF-Modell aus Antragsphase 1 um digitale Akteure und um taktische und strategische Reorganisationsprozesse erweitert, sowie individuelles und systemisches Vergessen und Verhalten differenziert.
Die Forschungsfrage der Psychologie (Ziel 1) war, wie das sozio-digitale IF-Modell reliabel und valide auf operativer Handlungs- und Verhaltensebene (OHVE) beschrieben werden kann, um Auswirkungen zu bewerten und zukünftige taktisch-strategische Anpassungsprozesse zu gestalten. Die Wirtschaftsinformatik ergänzte die Beschreibung des sozio-digitalen IF-Modells und der sozio-digitalen Funktionsteilung durch eine differenzierte Formalisierung von IF-Variablen, Qualifikation, Rollen, Aufgabenmerkmalen und -phasen für menschliche und künstliche Agenten. Diese bildete die Grundlage für die entwickelten Techniken und Software-Artefakte zur IF-Gestaltung und Simulation (Ziele 2 & 3). Im Rahmen studentischer Lehr- und Forschungskooperationen wurde ein Softwaretool zur Visualisierung und Elaboration der zu automatisierenden Prozesse entwickelt und in zwei Fallbeispielen in Industrie und Verwaltung erprobt (Reuter, Ellwart, Graf, & Müller, 2021; Ellwart, 2022ab). Die Machbarkeit und Akzeptanz sozio-digitaler Teamarbeit wurden durch eine partizipative Systembewertung evaluiert. Es wurden Wissensbereiche mit Blick auf Vergessen, Erhalten und Erlernen identifiziert.
Die Forschungsfrage der Psychologie war des Weiteren, wie sich Metawissen und Aufgabenmerkmale bei Störungen und Reorganisationen auf System und individuelles IF und Erleben auswirken. Intentionales Vergessen wurde als aufgabenbezogene Spezialisierung und Meta-Wissen operationalisiert. Für die sieben experimentellen Untersuchungen (zzgl. > fünf Experimente in Abschlussarbeiten) wurde die Simulationsplattform Fire, Crime, & Injury (FCI) entwickelt (Timm et al., 2022). Diese Plattform setzt das zuvor von der Wirtschaftsinformatik entwickelte formale IF-Modell in einer interaktiven Simulationsumgebung auf operativer Ebene um. Die FCI ermöglicht als gemeinsam genutzte Plattform die Übertragung von Erkenntnissen zwischen Feld-, Experiment- und Simulationsforschung. Sie bildete im Projekt AdaptPro2 die Grundlage für psychologische Laborexperimente sowie systematische Simulationsstudien zum IF unter Berücksichtigung von Metawissen in der sozio-digitalen Funktionsteilung. Diese Studien zeigten beispielsweise, dass Metawissen in sozio-digitalen Teams eine erfolgreiche Teamadaptation nach Störungen (Ausfall des digitalen Akteurs) ermöglicht und zu weniger Informationssuche und Fehler und zu höher Leistung führt (Müller et al., 2022). Abweichend von unseren Annahmen konnte ein direkter intentionaler Vergessens-Effekt im Experiment nicht nachgewiesen werden (vgl. Ellwart et al., 2021).  
Die Forschungsfrage der Psychologie gemäß Ziel 3 war, wie verhältnisbezogene (Rollen und Prozesse) sowie personenorientierte Maßnahmen abgeleitet werden können, um Anpassungsprozesse als IF zu gestalten. Die Entwicklung der FCI-Plattform (Timm et al., 2022) ermöglichte die Manipulation unterschiedlicher digitaler Autonomiestufen und die Überprüfung der Hypothesen des erweiterten IF-Modells in Laborexperimenten und Sozialsimulationen. Auf Basis der empirischen Daten aus vorangegangenen Experimenten ermöglichten Sozialsimulationen ferner die Entwicklung eines digitalen Zwillings, der während einer Aufgabenbearbeitung durch den menschlichen Akteur im FCI adaptiv Aufgaben übernimmt und somit eine situative Anpassung zur Kapazitätserweiterung (intentionales Vergessen) implementiert. Ermöglicht wurde dies durch eine Integration des formalen IF-Modells in die Deliberation rationaler Agenten nach dem Beliefs-Desires-Intentions-Modell (BDI). Hierzu wurde ein Analyse- und Planungsverfahren entwickelt, mittels dessen Multiagentensysteme eine taktische und strategische Reorganisation der Funktionsteilung im Sinne des IF vornehmen können. Dies bildete die Grundlage für die Identifikation und Gestaltung von IF auf technischer Ebene in der sozio-digitalen Funktionsteilung. Die Auswirkungen der so getroffenen strategischen Entscheidungen für geplantes IF auf die Informationsverarbeitungskapazität digitaler Teams wurde simulativ evaluiert (Dissertation Reuter, in Vorbereitung).
Weitere Studien untersuchten die Nutzung eines autonomen Agentensystems sowie des digitalen Zwillings in Bezug auf die Adaptation bei Störungen sowie Wissensverteilung und Wahrnehmung in sozio-digitalen Teams (Antoni et al., 2023ab; Ellwart et al., 2023). Dies ermöglichte die Analyse taktischer sowie strategischer Anpassungsprozesse (vgl. Graf et al., 2023b; Müller et al., 2023). Darüber hinaus lassen sich Implikationen beispielsweise für teambezogene Perzeptionen ableiten, die in Studien zentrale Faktoren in solch Vergessenden Systemen aus digitalen und menschlichen Akteuren darstellen (vgl., Graf et al., 2023a; Graf et al., 2023b; Müller et al., 2023).

Das im Rahmen von AdaptPro entwickelte interdisziplinäre Vergessens-Modell können Organisationen perspektivisch zur Gestaltung von sozio-digitalen Wissenssystemen nutzen. Es kann verwendet werden um sozio-digitale Teams darin zu unterstützen, ihre Informations- und Wissenssysteme anzupassen und damit ihre Rollen und Arbeitsprozesse situationsgerecht zu adaptieren und somit, je nach Bedarf, eine optimale Balance von geteiltem und verteiltem Wissen zu finden.
Des Weiteren entwickeln wir ein Instrument zur Beschreibung, Gestaltung und Evaluierung von sozio-digitaler Funktionsteilung und damit einhergehend intentionalem Vergessen in Organisationen. Diese Zustandsanalyse hilft Organisationen, ihre Teams aus sozialen und digitalen Akteuren effektiver zu implementieren und mögliche Gefahren einer Funktionsteilung (Angst und Vertrauensverlust durch den Wegfall von Aufgaben (-Merkmalen) oder Delegierung von Prozessen) entgegenzuwirken.

Antragsteller/in:
Prof. Dr. Conny Herbert Antoni
Prof. Dr. Thomas Ellwart
Prof. Dr.-Ing. Ingo J. Timm

Mitverantwortlich:
Dr.-Ing. Jan Ole Berndt


COFFEE


In der Produktentwicklung können Aufwand und Kosten reduziert werden, indem Wissen und Erfahrung aus abgeschlossenen Projekten wiederverwendet wird. Zur Herausforderung wird dies allerdings aufgrund der heterogenen Verwaltung der Produktdokumentation und der Komplexität der Modelle. Im Projekt EVOWIPE wird erforscht, wie durch absichtliches Vergessen (Intentional Forgetting) nicht relevanter Modellelemente die Komplexität beherrscht und die Wiederverwendung zielgerichteter gestaltet werden kann.

Ausgangsfragen und Zielsetzung
Systematisierung bereits implizit verwendeter Vergessensmethoden, Entwicklung geeigneter Wissensrepräsentationsmethoden für absichtliches Vergessen, Integration dieser Informatikmethoden in die Produktentwicklung sowie Validierung dieses Ansatzes und Verallgemeinerung in einem Vorgehensmodell.
Beschreibung der gesamten Ergebnisse und Erkenntnisse
Ausgehend von existierenden Vergessensmechanismen wurde eine Methodik entwickelt, mit der spezifiziert wird, was vergessen werden muss, das sogenannte Cascaded Forgetting, das auf Metaeigenschaften OWL-DL und SPARQL basiert. Im Produktentwicklungskontext lässt sich damit zum Beispiel ermitteln, welche Teile eines Fahrraddesigns vergessen werden müssen, wenn der Antrieb auf Elektroantrieb umgestellt wird. Darüber hinaus wurden Postulate zur Begriffskontraktion für die Beschreibungslogik EL untersucht. Zum Beispiel aktualisiert die Begriffskontraktion den Begriff Fahrrad, nachdem angenommen wurde, dass Fahrräder elektrisch sein können. Ausgehend vom Mangel geeigneter existierender Wissensmodi, wurden semantische Annotationen entwickelt, die eine Variantengestaltung ermöglichen. Schließlich wurde dieser Ansatz an verschiedenen Anwendungsbeispielen evaluiert.

Ausgangsfragestellung
Technische Entwurfsprojekte erfordern in der Regel eine enge Zusammenarbeit und die Wiederverwendung von Wissen aus früheren Projekten. Diese Wiederverwendung von Wissen erfordert die Aktualisierung von Annahmen, die nicht mehr gültig sind. Zum Beispiel muss die Annahme, dass Fahrräder nicht-elektrische Transportmittel sind, nach dem Aufkommen von Elektrofahrrädern absichtlich vergessen werden. Indem wir Wissensdatenbanken als "organisatorisches Gedächtnis" betrachten, untersuchen wir in diesem Projekt Mechanismen, die absichtlich nur das nicht mehr relevante Wissen entfernen. Wir haben die folgenden Hauptziele des Projekts definiert: 1. Methoden, um festzulegen, was vergessen werden muss, 2. Operatoren zur Aktualisierung von Konzepten nach dem Vergessen, 3. Methoden zur Beseitigung von Design-Inkonsistenzen in einer Wissensbasis, 4. Semantische Annotationen zur Ermöglichung des Variantenentwurfs.
Ergebnisse und Erkenntnisse
Wir haben eine Methodik entwickelt, um zu spezifizieren, was vergessen werden muss, das sogenannte Cascaded Forgetting, das auf Metaeigenschaften OWL-DL und SPARQL basiert. Damit lässt sich zum Beispiel ermitteln, welche Teile eines Fahrraddesigns vergessen werden müssen, wenn der Motor auf Elektroantrieb umgestellt wird. Es wurden zudem die Postulate zur Begriffskontraktion für die Beschreibungslogik EL untersucht. Zum Beispiel aktualisiert die Begriffskontraktion den Begriff Fahrrad, nachdem angenommen wurde, dass Fahrräder elektrisch sein können. Wir haben verschiedene Argumentationsmethoden zur Lösung von Inkonsistenzen untersucht und Pseudo-Riemannsche Graphenfaltungsnetze für Beschreibungslogiken ABoxen und Argumentationsgraphen sowie andere Techniken für das Problem der Linkvorhersage eingeführt. Wir leiten Schemabeschränkungen für Wissensgraphen-Daten-Mappings ab, die z. B. dazu verwendet werden können, einen Teil eines Designs zu extrahieren. Zu diesem Zweck axiomatisieren wir mit SPARQL CONSTRUCT Abfragen definierte Mappings und leiten die Constraints für das Mapping-Ergebnis ab. Wir untersuchten den Stand der Technik und stellten fest, dass es an etablierten formalen Wissensmodi mangelt, woraufhin wir semantische Annotationen entwickelten, die eine Variantengestaltung ermöglichen.

Durch den Einsatz von Intentional Forgetting werden dem Produktentwickler nur die relevanten Wissenselemente zur Verfügung gestellt. Dadurch wird die Komplexität der Wiederverwendung stärker reduziert und die Anpassung technischer Systeme überschaubarer. Das absichtliche Vergessen schafft Raum für neue Ideen.

Antragsteller/in:
Prof. Dr. Steffen Staab
Prof. Dr-Ing. Sandro Wartzak


Cyber-physical Forgetting in sozio-digitalen Systemen


Um eine organisationale Veränderung erfolgreich meistern zu können, ist eine zügige Anpassung an neue Prozesse notwendig. Alte Arbeitsroutinen sollen nicht mehr ausgeführt werden – sie sollen vergessen werden. Dieses intentionale Vergessen von Routinetätigkeiten im Arbeitskontext ist Gegenstand unserer Forschung. Dabei betrachten wir sowohl die Rolle technischer Elemente (z.B. cyber-physischer Systeme) als auch organisationale (z.B. Prozesse und Rahmenbedingungen) und personenbezogene Aspekte (z.B. Einstellungen und Fähigkeiten der Person).

Ausgangsfragen und Zielsetzung
Die zentralen Fragen der ersten Förderphase waren 1) auf welche Weise findet das Vergessen in arbeitsteiligen, geschäftsprozessbezogenen Aktivitäten statt? Und 2) welche Wirkung hat das Entfernen von Retrieval Cues auf das Vergessen von Routinen und bestehen Unterschiede in Bezug auf einzelne Cue-Kategorien?  Dazu wurden insgesamt 4 Arbeitspakete formuliert:
Zunächst wurden die Prozesse im FACI (Forschungs- und Anwendungszentrum Industrie 4.0) für das experimentelle Setting vorbereitet, d. h. das FACI wurde an der Universität Potsdam für die Experimente umgebaut (die anschließend in Potsdam und Bochum durchgeführt wurden) und definierte Geschäftsprozessaktivitäten in ein experimentelles Setting überführt. Hierzu war es notwendig, die Überführungsprozesse zwischen schematischem (organisational expliziert) und instanzbezogenem (durch das Organisationsmitglied angewendet) Wissen zu erfassen und diese um Elemente des Vergessens zu erweitern. Dies wurde durch den Einsatz der Knowledge Modeling and Description Language (KMDL) bewerkstelligt (Haase & Thim, 2019; Gronau, 2021, 2024). Es entstanden Produktionsroutinen (mit 29 Aktionen), die vergleichbar, aber hinreichend unterschiedlich waren und die Tätigkeiten der jeweiligen Werkerposition sinnvoll abbildeten. Um die Durchführung zu beschleunigen, wurde ein „Zwilling“ der Anlage in Bochum installiert, um die Experimente parallel durchführen zu können. Die Auswertung und Integration der Daten erwies sich dabei als aufwendiger als ursprünglich eingeplant, da die auszuwertenden Daten zu den Werkerroutinen aus verschiedenen Datenquellen zunächst zu-sammengeführt werden mussten. Diese Datenintegration (Video-Material, Logfiles, Blickbewegungen, Daten aus papierbasierten Unterlagen, die zur Routine gehörten) und deren Aufbereitung für die verschiedenen Messzeitpunkte hat deutlich mehr Zeit benötigt.
Beschreibung der Ergebnisse und Erkenntnisse
Die zentralen Erkenntnisse wurden bereits in verschiedenen Formaten präsentiert und sind in der Publikationsliste (Schüffler et al., 2019; Schüffler et al. 2021) aufgeführt. Es wurden kontextbezogene Faktoren wie Abrufhinweise (Studie 1), Zeitdruck (Studie 2) und Erhöhung des Aufwands (Studie 3) variiert. Zu den untersuchten personenbezogenen Faktoren gehörten Merkfähigkeit, allgemeine und routinespezifische Selbstwirksamkeit und wahrgenommene Anpassungskosten. Zu den abhängigen Variablen gehörten verschiedene Fehlertypen und die Produktionszeit vor und nach der Anpassung. In den Studien wurden Daten von insgesamt 148 Teilnehmenden ausgewertet, die zum Zeitpunkt t1 in einer Produktionsroutine trainiert wurden und eine Woche später zum Zeitpunkt t2 eine adaptierte Routine ausführten. Es zeigte sich sehr deutlich, dass die Produktionszeit bei allen Gruppen zu t2 erheblich zunahm. Bei den Teilnehmenden der Studien 1 (Rertieval Cues) und 2 (Zeitdruck) blieben die Fehlerquoten konstant, bei Studie 3 nahmen die Fehler signifikant ab. Die Merkfähigkeit sowie die subjektiv erlebten Switching Costs (für die eine eigene Skala entwickelt wurde) wirkten sich sowohl bei t1 als auch bei t2 signifikant auf die Anzahl der Fehler aus (fluency hatte dagegen keinen Ein-fluss), was unterstreicht, dass Routineänderungen in einem "laufenden Betrieb" unabhängig von Kontextfaktoren Zeit benötigen (Kluge et al., accepted). Wichtige Erkenntnisse erhielten wir zu den Fehlerarten, die gemacht wurden und die sich von den bisher verwendeten Fehlerklassifikationen unterscheiden.

Ausgangsfragen und Zielsetzung des Projekts
Ziel des oben genannten Forschungsprojekts war es zu untersuchen wie CPS vergessen können, wie Akteure den Umgang mit vergessenden CPS erleben und inwieweit die Zusammenarbeit mit einem vergessenden CPS das intentionale Vergessen in Fertigungsroutinen unterstützen kann.Zudem war es Ziel, das intentionale Vergessen in kontinuierlichen Veränderungsprozessen mit dem in episodischen Veränderungsprozessen (die wir bisher untersucht haben) zu vergleichen sowie  die im experimentellen Setting des Forschungs- und Anwendungszentrums Industrie 4.0 (FAZI) generierten Ergebnisse anhand einer Langzeit-Experience Sampling Studie im Feld auf organisationale Akteure auszuweiten.
Beschreibung der Ergebnisse und Erkenntnisse
Der Aufbau der Wissensbasis, wie auch der Vergessensmechanismen wurden als Zyklus eines fallbasierten KI-Einsatzes und eines kontinuierlich weiterlernenden künstlichen neuronalen Netzwerks ausgestaltet (Grum et al., 2023). Somit findet sich eine Wissensbasis zum einen lokal auf intelligenten CPS wie auch verteilt auf gemeinschaftlicher Ebene diverser intelligenter Systeme. Eine Erprobung erfolgte in vier Experimenten mit 5.760 Wissensbasen wie folgt: Das Vergessen in CPS kann auf verschiedenen Ebenen einer Wissensrepräsentation erfolgen, (I) auf seiner individuellen Ebene neuronaler Netzwerke, (II) seiner individuellen Ebene einer fallbasierten Auswahl der Netzwerke, (III) seiner individuellen Interaktionsebene mit der Umwelt, sowie (IV) der Ausgestaltungsebene seiner ihm zur Verfügung stehenden Umwelt, welche dieselben Ebenen für jedes teilhabende System bereitstellt.
Um die Experimente durchführen zu können, wurde das Produktionslayout des Zentrum Industrie 4.0 in Potsdam so erweitert, dass Probanden an drei Arbeitsstationen sowie via Internet gleichzeitig und unabhängig voneinander arbeiten können. Es zeigte sich, dass die Ebenen des Vergessens auch den Menschen inkludieren, da festgestellte Vergessensebenen menschlicher und maschineller Umweltteilhaber per Konzeption Wechselwirkungen unterliegen. Diese sowie auch weitere Einflussfaktoren (z. B. Vertrauen, Frustration, Akzeptanz) wurden in Experimenten im Mai 2024 überprüft. Erste Ergebnisse mit n = 150 Teilnehmenden zeigten, dass sich das KI-Vertrauen signifikant verschlechtert, wenn eine KI fehlerhaft arbeitet. Die Autono-mie, Transparenz, Korrektheit haben keinen signifikanten Einfluss auf das KI-Vertrauen. Die Messungen zum Vergessen vor und nach dem KI-Einsatz zeigen ebenfalls signifikante Unterschiede. Anzunehmen ist, dass hier ein Übungseffekt aufgrund der zusätzlichen Kooperation mit der KI feststellbar ist. Darüber hinaus ist ein Modellierungsansatz entstanden, der Vergessen in Geschäftsprozessen darstellt und auf Basis gesteuerter Vergessensprozesse Veränderungen und Reorganisationen in Organisationen ausgestaltet (Thim et al., 2023). Weiter ist eine neue Modellierungssprache namens KMDL3.0 entwickelt worden, die mittels einer Wissenssicht auf Personen- und CPS-Ebene nun auch Maschinenwissen darstellbar und Prozesse mit Personen und Maschinen als Akteuren ausgestaltbar macht (Gronau 2024a).
Im Zeitraum von September 2021 bis Dezember 2022 wurden Daten von 86 Versuchspersonen an der Ruhr-Universität Bochum erhoben. Die Ergebnisse (n = 71) zeigen, dass die Personen in der Gruppe der kontinuierlichen Veränderung im Anschluss an die Veränderungseinführung eine signifikant höhere Bearbeitungszeit aufwiesen (Roling, Grum, et al., 2024b), eine geringere Anzahl von Fehlern machten, aber eine höhere Frustration erlebten. Weitere Analysen (n = 35) zeigen, dass die Art der Veränderung für die Anpassung von Bedeutung ist (Roling, Grum et al., 2024a; Roling et al., 2023). In Zusammenarbeit mit der Stadtverwaltung einer mittelgroßen Stadt in Deutschland fand eine Datenerhebung mit insgesamt zwei Messzeitpunkten statt (T1: November/Dezember 2021, n = 104; T2: November/Dezember 2022, n = 67). Zwischen den beiden Messzeitpunkten wurden neue Kommunikationsrichtlinien und Änderungen in den Arbeitsabläufen eingeführt. Die Ergebnisse zeigen, dass die Zufriedenheit mit den neuen Arbeitsschritten signifikant negativ mit dem Zurückdenken an alte Arbeitsschritte und dem Ausführen alter Arbeitsschritte korreliert ist. Das Zurückdenken an alte Arbeitsschritte ist signifikant positiv mit dem Ausführen alter Arbeitsschritte korreliert. Darüber hinaus deuten weitere Analysen darauf hin, dass die intentionale Bereitschaft zur Digitalisierung ein signifikanter Prädiktor für die Ausführung alter Arbeitsschritte ist.

Bei Change und Veränderung wird davon ausgegangen, dass es ausreicht, wenn gewusst, gekonnt und gewollt wird, was zu tun ist. Gerade im Kontext von routinisierten Handlungen werden MitarbeiterInnen jedoch „rückfällig“. Veränderung ist nicht nur ein Problem des Neuen, sondern auch ein Problem des Alten. Erst wenn alte Routinen nicht mehr zur Anwendung kommen, können Veränderungen erfolgreich sein. Die Ergebnisse des Forschungsprojektes helfen dabei, die relevanten Einflussfaktoren zu identifizieren und zu modifizieren. Von besonderem Interesse ist dabei das Verhalten in adaptiven Produktionsumgebungen mit der kontinuierlichen Notwendigkeit, die Routinen zu reflektieren und zu modifizieren. Die hier erzielten Ergebnisse können jedoch in jedem Arbeitskontext unterstützen, Verhalten von Individuen, Gruppen und Organisationen bewusst zu verändern.

Antragsteller/in:
Prof. Dr.-Ing. Norbert Gronau
Prof. Dr. Annette Kluge


Getrost Vergessen


Die durch Digitalisierung zunehmende Verfügbarkeit von Informationen in Organisationen kann EntscheiderInnen verunsichern und erfordert eine Anpassung im Umgang mit Informationen. Informationssysteme (IS) können erfolgreiches Wissensmanagement unterstützen, indem sie Nutzern jeweils zentrale Informationen effektiv und flexibel bereitstellen, so dass weniger relevante Informationen in den Hintergrund treten. IS werden somit als Trigger von intentionalem Vergessen in Organisationen betrachtet.

Ausgangsfragen und Zielsetzung
Das Tandemprojekt konzentrierte sich auf Untersuchungen zu motivationalen Faktoren, die intentionales Vergessen in Organisationen behindern oder fördern können. Intentionales Vergessen wird dabei über das Ausmaß der Nutzung von Informationssystemen operationalisiert. Verfügbarkeit und Design von Informationssystemen werden als strukturelle Auslöser von Vergessen in Organisationen betrachtet, die den Usern relevante Informationen bereitstellen. Die Nutzung von Informationssystemen kann bei den Usern kognitive und emotionale Ressourcen einsparen, und durch Fokussierung auf wesentliche Kriterien die Qualität und Geschwindigkeit von Entscheidungen erheblich steigern. Eine wesentliche Voraussetzung dafür ist Vertrauen in das Informationssystem.
Beschreibung der gesamten Ergebnisse und Erkenntnisse
Insgesamt wurden in der ersten Antragsphase zwei explorative Studien sowie zwei aufwändi-gere Experimentalstudien durchgeführt und international publiziert. Die dazu notwendigen computergestützten Aufgabenparadigmen und VIS wurden ebenfalls im Tandemprojekt entwickelt und programmiert. Darüber hinaus sind die theoretischen Modellierungen in einem konzeptionellen Artikel zu Antezedenzien und Konsequenzen von Vertrauen in Informationssystemen publiziert worden. Zudem wurde eine Taxonomie der Informationsbedarfe von Ent-scheidenden mit zwölf verschiedenen Kategorien entwickelt und validiert.

Ausgangsfragen und Zielsetzung
Die zweite Antragsphase des Tandemprojekts folgte einem Full-Cycle Ansatz, bei dem Theoriebildung und Laborexperimente durch Feldstudien komplettiert wurden. Dabei fokussierte das Projekt den Transfer und die Validierung bzw. Weiterentwicklung der bisherigen Erkenntnisse in bestehenden Organisationen und Arbeitskontexten. Hauptziele waren dabei:

  1. Weiterentwicklung des VIS Prototyps auf der Basis der 3 VIS-Prototypen aus der 1. Projektphase, die gezieltes Vergessen unter Laborbedingungen auslösen konnten.
  2. Untersuchung von Vergessens-Prozessen in sozio-digitalen Systemen: Neben den technologischen Aspekten wurden die Effekte des VIS unter Alltagsbedingungen psychologisch erforscht. Dabei wurden kognitive Leistungsfaktoren, Stress, Wohlbefinden und das Nutzungsverhalten dokumentiert und analysiert.
  3. Einsatz des betrieblichen Anwendungssystems bei Praxispartnern: Nach erfolgreichem Transfer der Grundprinzipien des gezielten Vergessens durch ein VIS in den betrieblichen Kontext sollte ein Management-Informationssystem (MIS) im Feld mit Fokus auf die Integration in die IT-Landschaft der Praxispartner zur Validierung des Effekts gezielten Vergessens evaluiert werden.
  4. Verbesserung des betrieblichen Anwendungssystems: Um den zukünftigen Einsatz in der Realität zu ermöglichen, muss ein MIS den Anforderungen der betrieblichen Realität entsprechen. Dazu gehören die vollständige Integration in die IT-Landschaft, hohe Flexibilität und verschiedene Anwendungsfälle wie das Generieren von Reports. Die Weiterentwicklung sollte auf Erkenntnissen aus Feldstudien und zusätzlichen Nutzerbefragungen in der zweiten Projektphase basieren.
  5. Erweiterung der empirischen Basis und Integration selbstlernender Systeme: Zusätzlich zur qualitativen Validierung des VIS in existierenden sozio-technischen Systemen sollte die Modellierung gezielten Vergessens auch quantitativ überprüft werden. Geplant waren zwei umfangreiche Studien zur Erfassung konkreter Nutzungsereignisse und zur Untersuchung des Einflusses selbstlernender Elemente auf das Vertrauen in VIS.

Anders als ursprünglich geplant, haben wir kein eigenes Informationssystem implementiert, da trotz intensiver Suche keine passende Organisation für die Einführung gefunden wurde, was nicht zuletzt auch an der Covid-19 Pandemie lag. Stattdessen untersuchten wir die Einführung kommerzieller IT-Systeme in fünf verschiedenen Organisationen (sowohl im Bereich Wirtschaft als auch im Bereich öffentliche Verwaltung). Dabei stand vor allem der Einfluss von Vertrauen auf intentionales Vergessen im Mittelpunkt. Darüber hinaus untersuchten wir Auswirkungen der Covid-19 Pandemie auf digitalisierte Arbeitsprozesse im Verwaltungsbereich. Zusätzlich führten wir experimentelle Studien zur Flexibilität eines Management-Informationssystems und dessen Einfluss auf Wahrnehmung und Arbeitsperformance der Nutzenden durch, sowie Be-fragungsstudien (unter Nutzung der Event-Reconstruction Method) zur Untersuchung von Vergessens-Prozessen in existierenden sozio-digitalen Systemen.

 

Der Einsatz von Entscheidungsunterstützungssystemen kann eine Möglichkeit für Unternehmen sein, mit immer größer werdenden Datenmengen und steigender Komplexität umzugehen. Die längsschnittliche Untersuchung einer realen Implementierung eines solchen Systems in die Praxis eines Unternehmens kann für Organisationen relevante Ergebnisse liefern: Wie wirkt sich die Implementierung eines DSS auf die Arbeitsleistung aus? Wie verhält es sich mit der mentalen Gesundheit der MitarbeiterInnen? Was muss bei der Implementierung beachtet werden? Wie verhält sich das Vertrauen in ein DSS über die Zeit? Welche Maßnahmen können von Seiten der Unternehmen ergriffen werden, um die Nutzung des DSS zu unterstützen? Die Beantwortung dieser und weiterer Fragen kann für Organisationen Best Practices aufdecken, die die Implementierung eines DSS erleichtern können.

Antragsteller/in:
Prof. Dr. Dr. h.c. Dr. h.c. Jörg Becker, Prof. h.c.
Prof. Dr. Guido Hertel

Mitverantwortlich:
Dr. Christoph Nohe
Dr. Meinald Thielsch


FADEp


Als Menschen leben wir von Routinen - auch bei der Arbeit. Doch das Vergessen der alten Routinen und die Einrichtung neuer Routinen können notwendig sein, um Fortschritte zu erzielen. Es ist daher nicht überraschend, dass die sich rasch verändernden Arbeitsumgebungen von uns verlangen, bestehende Arbeitsroutinen und Arbeitsabläufe regelmäßig anzupassen. Vergessen und uns von den Routinen entfernen, die wir kennen gelernt haben und gewohnt sind, kann schwierig und kognitiv anstrengend sein.

Das FADEp-Projekt will untersuchen, wie wir bestehende Arbeitsroutinen und und Arbeitsabläufe verändern können, unter Beibehaltung der kognitiven Anstrengung, die mit einem Minimum von Chance Prozessen einher gehen. Um dies zu erreichen, werden wir eine gemeinsame Sichtweise anstreben, in einer Mischung aus logischen Methoden in der Anwendung mit plausibler Argumentation und Erkenntnissen der Kognitionspsychologie. Dabei streben wir die Entwicklung eines interdisziplinären Modells des intentionalen Vergessens an, das Methoden für formell begründete Empfehlungen für Veränderungsprozesse unter Berücksichtigung menschlicher kognitiver Prozesse des intentionalen Vergessens integriert.

Ausgangsfrage und Zielsetzung
Das Projekt FADE entwickelte eine methodische und formale Grundlage für Intentionales Vergessen durch kognitiv-informatische Methoden der Priorisierung, Kompression und Kontraktion von Wissen. Eine zentrale theoretische Einsicht des Projekts ist, dass Vergessen ein Spektrum von unterschiedlichen Operationen umfasst. Im Rahmen des Projektes wurde untersucht, welche spezifischen Arten des Vergessens existieren, welche charakteristischen Eigenschaften sie aufweisen und in welcher Weise sie miteinander in Beziehung stehen. Zum Teil hängen die verschiedenen Vergessensarten methodisch eng zusammen. Aus den verschiedenen Vergessensarten ergibt sich eine „Landscape of Forgetting“. Die verschiedenen Vergessensoperationen wurden formal untersucht und zur Demonstration als Computerprogramm implementiert. Im psychologischen Teil wurden directed forgetting Ansätze (DF) mit item-spezifischem Pri-ming kombiniert, um zu untersuchen, wie Vergessensinstruktionen das Lernen und den Abruf von Stimulus-Response (S-R) Assoziationen beeinflussen. Dabei reagieren Versuchspersonen auf wiederholte Stimuli, um zu analysieren, wie Vergessen die Reaktionszeiten und Fehlerra-ten verändert. Die Ergebnisse zeigen, wie DF das Lernen und den Abruf von S-R Assoziationen beeinflusst und welchen Einfluss es insbesondere auf dekoratives Wissen hat. Parallel wurde die kognitive Architektur ACT-R dafür genutzt, um Vergessen zu modellieren. Die detaillierten Ergebnisse und Erkenntnisse des Projekts sind durch entsprechende Veröffentlichun-gen in Tagungsbänden von Konferenzen und in Zeitschriften allgemein zugänglich.

Ausgangsfrage und Zielstellung
Das Projekt FADEp entwickelt eine psychologische fundierte formalwissenschaftliche Theorie des Vergessens mit Fokus auf konditionales Wissen und nutzt diese, um Belastungsfaktoren bei Änderungen in Arbeitsprozessen aufzudecken. Wie beim Menschen nutzt die aktivierungs-basierte konditionale Inferenz Vergessen, um unwichtiges Wissen auszublenden. Nur relevan-te Teilmengen des Wissens werden für die Inferenz genutzt. Dieser formal fundierte Ansatz generalisiert und modernisiert den ACT-R Ansatz von Anderson und bietet zugleich alle Vorteile eines modernen Expertensystems. Damit integriert dieser Ansatz Aspekte des menschlichen Denkens wie Fokussierung, Vergessen und Erinnern in Expertensysteme.
Zugleich wurden in FADEp insbesondere auch die Erkenntnisse durch empirische Studien im Arbeitsgedächtnis und Langzeitgedächtnis untersucht, welche die Aktivationshypothese stützen konnten. Intentionales Vergessen einer vollständigen Liste bereits erlernter Informationen beeinträchtigt die Erinnerung an die Zugehörigkeit der zu vergessenden Elementen weder, noch verbessert sie diese. Diese Befunde legen nahe, dass die zuvor identifizierten Kosten des Vergessens nicht durch einen Mechanismus erklärt werden können, der den Kontext der Liste hemmt oder zu einer präziseren Unterscheidung der Listenelemente führt. Gleichzeitig konnte die Effizienz der Entfernung veralteter Informationen aus dem deklarativen Arbeitsgedächtnis hervorgehoben werden, was sich in robusten Directed Forgetting-Effekten manifestiert. Die Projektarbeiten zeigen auf, dass die Absicht, sich an Stimuli zu erinnern oder sie zu vergessen, keinen Einfluss auf die Encodierung oder den Abruf der assoziierten Reaktionen hat. Dies unterstreicht die Begrenzungen der intentionalen Kontrolle über den Abruf und die Encodierung von prozeduralen Gedächtnisinhalten, welche sich deutlich von deklarativen Inhalten unterschieden. Vergessen und Fokussieren lassen sich bei Inferenzmethoden auch im Zusammenhang mit sogenannten Syntax Splittings ausnutzen. Ein Syntax Splitting formalisiert die Aufteilung von Wissen in unabhängige Teile.
Vergessens- und Inferenzprozesse sollen sich auf die relevanten Teile des Wissens beschränken. Damit sind Syntax Splittings ein interessantes Mittel, um bei der Fokussierung die Auswahl relevanter Wissensbestandteile zu lenken. Im Rahmen des Projektes haben wir verschiedene Inferenzmethoden entwickelt und identifiziert, die diesem Prinzip folgen. Weitere Arten von Splittings sind das Semantic Splitting, das Constraint Splitting und Ranking Kinematics.
Darstellung der im Projekt ggf. entstandenen durch andere nachnutzbare und offen zugängliche Forschungsdaten, Methoden, Standards, Software oder Infrastrukturen
Die detaillierten Ergebnisse und Erkenntnisse des Projekts sind durch entsprechende Veröffentlichungen in Tagungsbänden von Konferenzen und in Zeitschriften allgemein zugänglich.

Durch die Integration unseres kognitiven Informationsansatzes in ein bestehendes Knowledge
System, kann das System Änderungen für Prozesse empfehlen, um die Arbeitsbelastung, zum Beispiel in einem Helpdesk, zu verringern. Zu diesem Zweck simuliert das System mögliche Änderungen von Prozessen durch die Verwendung von Vergessensfunktionen und wählt die empfohlenen Änderungen aus und präsentiert sie dem Benutzer, als Hilfsmittel für laufende Change-Prozesse. Die Auswahl erfolgt unter der Prämisse, ob die Änderung die Arbeitsbelastung reduzieren könnte, z. B. durch redundante oder veraltete Prozesse.

Antragsteller/in:
Prof. Dr. Christoph Beierle
Prof. Dr. Gabriele Kern-Isberner
apl. Prof. Dr. Dr. Marco Ragni 


iVAA


Das Projekt iVAA beschäftigt sich mit Gewohnheiten bei der alltäglichen Arbeit, die bei der Erledigung von Arbeitsaufgaben auftreten und somit für das Funktionieren von Organisation von Bedeutung sind. Konkret untersuchen wir, wie unerwünschte Gewohnheiten verändert („vergessen“) werden können. Wir konzentrieren uns dabei auf individuelle gewohnheitsmäßige Verhaltensweisen und betrachten das Vergessen dieser Verhaltensweisen als einen proaktiven Prozess. Dazu entwickeln wir ein interaktives System, welches möglichst nahtlos in die alltägliche Umgebung eingebettet ist und den Mitarbeiter proaktiv unterstützt.

Ausgangsfragen und Zielsetzung
Ziel des Projekts war es, herauszufinden, wie Menschen ihre dysfunktionalen arbeitsbezoge-nen Gewohnheiten verändern können. Zentrale Fragen zu Phase 1 waren: Wie lässt sich zu vergessendes Verhalten in Arbeitsprozesse formalisieren? Wie lassen sich formalisierte Arbeitsprozesse, in denen Mechanismen für Vergessen beschrieben sind, in adaptierbare inter-aktive Informationssysteme integrieren? Welche individuellen und situativen Faktoren im Arbeitskontext müssen gegeben sein, sodass intendiertes Vergessen von Arbeitsverhalten stattfinden kann?
Beschreibung der Ergebnisse und Erkenntnisse
In einer korrelativ angelegten Tagebuchstudie (N = 145 Personen; 1.067 Tage) zeigte sich, dass zu Beginn des Arbeitstages gefasste Vorsätze (d. h. Implementationsintentionen), ein spezifisches Alternativverhalten zu zeigen, mit vermehrtem vigilanten Monitoring im Laufe des Arbeitstags einherging und dann das vigilante Monitoring mit reduziertem Gewohnheitsverhalten und häufigerem Alternativverhalten zusammenhing (Sonnentag et al., 2022).
Die informatischen Arbeiten haben zeigen können, dass sowohl Gewohnheiten als Petrinetze formalisiert werden konnten, wie auch daraus entsprechende Differenzmodelle abgeleitet werden konnten (Law et al. 2017). Die Anwendbarkeit dieser Modelle wurde in einer technischen Lösung durch ein persuasives System innerhalb einer virtuellen Umgebung demonstriert (Langel et al. 2018). Im Anschluss wurde darauf aufbauend Methoden zur Formalisierung informeller Daten (hier Interviewdaten) entwickelt und evaluiert, wobei der Einfluss von Interpretation durch die/den Modellierer:in minimiert werden sollte (Law et al. 2023).    
 

Ausgangsfragen und Zielsetzung
Zentrale Fragen in Phase 2: Wie können spezifische Designrichtlinien für die Entwicklung von persuasiven interaktiven Informationssystemen aussehen, die auf das intentionale Vergessen von dysfunktionalen aufgabenbezogenen Gewohnheiten im Arbeitskontext abzielen? Welche psychologischen Prozesse haben einen kausalen Einfluss auf das intentionale Vergessen von dysfunktionalen aufgabenbezogenen Gewohnheiten? Welche organisationalen Kontextfaktoren spielen bei der Veränderung von dysfunktionalen aufgabenbezogenen Gewohnheiten eine Rolle?    
Beschreibung der gesamten Ergebnisse und Erkenntnisse
Ergebnisse aus Phase 2: In einer experimentellen Tagebuch-Studie (N = 202 Personen; 1.864 Tage) konnte gezeigt werden, dass Personen, die aufgefordert wurden, Vorsätze zum Alternativverhalten zu bilden, mehr vigilantes Monitoring über zwei Arbeitswochen zeigten als Personen in einer Kontrollgruppe, die keine Vorsätze gebildet haben. Dies bedeutet, dass auf der Personenebene Vorsätze zum Alternativverhalten tatsächlich einen Effekt auf das vigilante Monitoring haben. Das vigilante Monitoring hing dann mit geringem dysfunktionalen Gewohnheitsverhalten und stärkerem Alternativverhalten in Zusammenhang. In einer zweiten experimentellen Tagebuch-Studie (N = 331 Personen; 2.872 Tage) untersuchten wir die Wirkung des vigilanten Monitorings sowie von anderen Selbstkontrollstrategien auf das Gewohnheits- und Alternativverhalten. Die Analysen zum vigilanten Monitoring zeigten, dass experimentell induziertes vigilantes Monitoring vor allem am Vormittag einen Effekt auf Gewohnheits- und Alternativverhalten hat. Auf der Personenebene zeigte sich der Effekt auf das Gewohnheitsverhalten nur am Vormittag, auf das Alternativverhalten sowohl am Vormittag als auch am Nachmittag. In beiden Experimenten konnten wir auf der Tagesebene die Befunde der korrelativen Tagebuch-Studie (Sonnentag et al., 2022) replizieren. Die Befunde waren unabhängig von organisationalen Kontextfaktoren wie Arbeitsbelastung oder Handlungsspielraum am Arbeitsplatz.
Basierend auf den Ergebnissen der Tagebuch-Studien und verwandter Arbeiten haben wir sechs Designrichtlinien zur Entwicklung eines persuasiven Systems für die Änderung aufgabenspezifischer Gewohnheiten entworfen. Diese empfehlen unter anderem eine Unterstützung der Implementationsintentionen und des vigilanten Monitorings, die Möglichkeit zur Personalisierung, aber auch die Auswahl der Technologien. Für die Auswahl von Technologien wurde in einer empirischen Studie (N = 180 Personen) untersucht, wie verschiedene persuasive Technologien an ein Gewohnheits- bzw. Alternativverhalten erinnern können, ohne die eigentliche Arbeitsaufgabe negativ zu beeinflussen. Untersucht wurden ein Tablet, eine Smartwatch und eine InSitu-Projektion mit ambienter Beleuchtung. Dazu wurden die Probanden bei der Bearbeitung einer Hauptaufgabe regelmäßig durch die jeweilige Technologie unterbrochen. Die statistische Analyse der Ergebnisse ergab, dass keine der Technologien im Vergleich zu einer Kontrollbedingung (keine Unterbrechung) die Hauptaufgabe negativ beeinflusst hat. Eine explorative Analyse der Technologien untereinander ergab allerdings, dass eine Unterbrechung durch das Tablet am seltensten wahrgenommen und von den Probanden als untauglichste Technologie eingeschätzt wurde. Eine Publikation der Ergebnisse befindet sich aktuell in der Bearbeitung. Eine Einreichung ist für Sommer 2024 geplant.

 

Das Vergessen von unerwünschten Verhaltensweisen sollte es Berufstätigen ermöglichen, ihre Arbeit effizienter zu erledigen, ohne dass dabei die Beanspruchung steigt. Unser Projekt untersucht zum einen die notwendigen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen, die in der Organisation gegeben sein müssen, sodass unerwünschte Gewohnheiten wirklich verändert werden können. Zum anderen entwickeln und untersuchen wir ein digitales System zur proaktiven Unterstützung dieses Vergessens unter Zuhilfenahme der fortschreitenden Digitalisierung der Arbeitswelt.

Antragsteller/in
Prof. Dr. Sabine Sonnentag
Dr. Benjamin Weyers


Dare2Del


Schwerpunkt von Dare2Del ist es, Mitarbeitende in Verwaltung und Produktion dabei zu unterstützen, ihr digitales Wissen zu regulieren, indem irrelevante digitale Objekte wie Dateien ausgeblendet und gelöscht werden. Irrelevante digitale Objekte können die Suche nach Informationen behindern, Entscheidungsprozesse verzögern, die Aufmerksamkeit von der eigentlichen Aufgabe ablenken und damit die Arbeitsleistung und das Wohlbefinden beeinträchtigen. Mit der immer größer werdenden Menge an digitalen Daten wird es immer wichtiger, dass Mitarbeitende beim Aufräumen ihrer digitalen Unordnung und beim Vermeiden von digitalem Horten unterstützt werden. Im interdisziplinärer Kooperation von Psychologie (Arbeit und Kognition) und Informatik (Künstliche Intelligenz) untersuchen wir zum einen empirisch das absichtliche Vergessen im Arbeitskontext und entwickeln zum anderen ein partnerschaftliches KI-System, bei dem maschinelles Lernen und Wissensverarbeitung kombiniert sind. Mit einem Ansatz des erklärbaren interaktiven maschinellen Lernens wird so das intelligente Assistenzsystem Dare2Del realisiert, das den Mitarbeitenden hilft, irrelevante digitale Objekte zu erkennen und zu löschen. Systementscheidungen werden durch Erklärungen transparent und nachvollziehbar gemacht und Anwenderinnen und Anwender werden durch die Möglichkeit, Systemvorschläge sowie Erklärungen zu korrigieren, aktiv miteinbezogen.

Ausgangsfragen und Zielsetzung des Projekts:
Die Digitalisierung ermöglicht Organisationen, Daten und Informationen in unbegrenzter Menge zu speichern. Um fokussiert arbeiten zu können, müssen irrelevante Informationen bewusst vergessen werden. Das Projekt zielte darauf ab, mit Dare2Del ein System zu entwickeln, das Personen durch das Ausblenden oder Löschen irrelevanter Informationen unterstützt, ihre Aufmerksamkeit zu fokussieren und die Aufgabenleistung zu verbessern.
Seitens der Psychologie wurde zunächst die Relevanz sowie das Auftreten von intentionalem Vergessen im Arbeitsalltag untersucht. Hierfür wurde eine qualitative Untersuchung (N = 65 arbeitende Personen) durchgeführt, welche verdeutlichte, dass intentionales Vergessen im Arbeitskontext verschiedene Funktionen hat – darunter Aufmerksamkeitskontrolle, Selbstwertschutz und Emotionsregulation (Niessen, Göbel, Siebers & Schmid, 2020). Situationen, in denen intentional vergessen wird, sind geprägt von hoher Aufgabenkomplexität, Neuheit der Aufgabe, hohem Zeitdruck, oder auch Pausen (Niessen, Göbel, Lang & Schmid, 2020). Die Identifikation von situativen Faktoren, die intentionales Vergessen sowohl von Gedächtnisinhalten als auch von digitalen Objekten erleichtern oder erschweren, wurde detaillierter in einer kombinierten Labor- und Experience Sampling Studie im Arbeitskontext mit 158 Verwaltungsangestellten untersucht. Zeitdruck motiviert intentionales Vergessen im Arbeitsalltag, allerdings nur, wenn Personen auch die Fähigkeit haben, irrelevante Information im Gedächtnis zu inhibieren. Personen mit geringen Inhibitionsfähigkeiten haben schon unter moderatem Zeitdruck Schwierigkeiten, im Arbeitsalltag störende und ablenkende Gedanken zu kontrollieren (Niessen et al., 2020). Darüber hinaus zeigte die Untersuchung, dass Personen mit hoher Inhibitionsfähigkeit auch stärker vom intentionalen Vergessen profitieren: Sie konnten negative Emotionen während der Arbeit besser regulieren, woraus auch ein höherer Selbstwert resultiert (Göbel & Niessen, 2021). Die empirischen Ergebnisse zeigen, dass sowohl das Auftreten als auch die Konsequenzen von intentionalem Vergessen maßgeblich von der individuellen Inhibitionsfähigkeit abhängen. Diese Erkenntnisse betonen die Notwendigkeit, digitale Assistenzsysteme wie Dare2Del individuell und bedarfsgerecht zu designen.
Seitens der Informatik wurde das intelligente Assistenzsystem Dare2Del prototypisch für das temporäre Ausblenden und permanente Löschen (bzw. Archivieren) von digitalen Objekten konzipiert und umgesetzt (Siebers et al., 2017a, 2017b). Exemplarisch für temporäres Ausblenden wurden hier Daten in komplexen Tabellen verwendet, wie sie etwa im Kontext der Qualitätskontrolle bei industriellen Produktionsprozessen oder bei Patienten- und Medikamentendaten in der Medizin anfallen. Hier wurde eine probabilistische Variante des Situationskalküls in Prolog umgesetzt, um Nutzenden-Intentionen zu inferieren, darauf aufbauend kontextspezifisch relevante Tabellenspalten zu identifizieren und irrelevante Spalten auszublenden. Permanentes Löschen irrelevanter digitaler Objekte wurde einerseits für E-Mails im Kontext von Dokumentationsaufgaben in Universitätsbibliotheken und andererseits für Dateien, wie sie in vielen Verwaltungskontexten entstehen, betrachtet. Dare2Del basiert im Kern auf einer Methode der induktiven logischen Programmierung (ILP), die es den Nutzenden ermöglicht, gelernte Irrelevanz-Regeln nachzuvollziehen. Konkret wurde eine hybride und interaktive Methode des maschinellen Lernens umgesetzt. Entsprechend kann vorhandenes Wissen über die entsprechende Anwendungsdomäne (etwa Anforderungen aus dem Unternehmenskontext) in den Lernprozess einfließen und zudem kann sich Dare2Del basierend auf einer narrowing-Strategie für inkrementelles Lernen an Nutzendenpräferenzen anpassen (Siebers & Schmid, 2018). Am Ende der ersten Projektphase wurde begonnen, Dare2Del um eine Erklärungskomponente zu erweitern (Siebers & Schmid, 2019).

Ausgansfrage und Zielsetzung
Digitale Speicher werden oft zur mentalen Entlastung und als externes Gedächtnis genutzt – mit dem entscheidenden Unterschied, dass sie Veraltetes und Unnötiges nicht selbstständig aussortieren und löschen. Mithilfe des cognitive companion Dare2Del (Siebers et al., 2017), welcher auf induktiver logischer Programmierung basiert, können irrelevante digitale Objekte gezielt ausgeblendet und gelöscht werden. Dabei ist Dare2Del als interaktives, intelligentes und transparentes Assistenzsystem konzipiert, welches sich durch inkrementelles Lernen bedarfsgerecht an Nutzende anpasst.
Im Teilprojekt der Informatik/Künstliche Intelligenz war das Ziel, einen Ansatz des erklärenden interaktiven maschinellen Lernens umzusetzen, der Menschen im Arbeitskontext unterstützt, irrelevante digitale Objekte zu löschen. Fokus war das Löschen von Dateien sowie E-Mails. Bei Dateien wurden nicht die Inhalte, sondern ausschließlich die Meta-Daten (wie Dateiname, Dateisuffix, Verzeichnis, Erstellungsdatum, Änderungsdatum, Zugriffsdatum) genutzt. Im Projekt wurde einerseits eine prototypische Umsetzung für das Assistenzsystem Dare2Del realisiert, andererseits eine Mock-Up Version, die in empirischen Studien der psychologischen Tandem-Partnerinnen genutzt wurde (Göbel, Niessen et al., 2022).
Methodischer Kern der Umsetzung ist die Nutzung eines logikbasierten Ansatzes des maschinellen Lernens – Induktive Logische Programmierung (ILP). Hier wurde das System Aleph genutzt, das am Imperial College London entwickelt wurde. Dare2Del ist als hybrider Ansatz realisiert, bei dem Wissen über die spezielle Anwendungsdomäne und aus Daten gelernte Modelle kombiniert werden. Insbesondere werden spezielle Vorgaben eines Unternehmens zum Umgang mit Dateien als geschützte Regeln repräsentiert, die nicht durch Lernen modifiziert werden können. Hierzu gehören etwa Aufbewahrungsfristen für Verträge und Rechnungen oder Löschungspflichten von personalisierten Daten. Dare2Del berücksichtigt als Assistenzsystem persönliche Präferenzen der Nutzenden. Dies wird über eine Schnittstelle realisiert, bei der kontextabhängig eine wählbare Anzahl von Objekten präsentiert wird, die als relevant (nicht löschen) und irrelevant vorklassifiziert sind. Die Nutzenden können den Vorschlägen zustimmen, oder die Vorschläge korrigieren. Die Korrekturen werden zur Modell-Revision genutzt (interactive learning, Kiefer et al., 2022). Als Grundlage für eine informierte Entscheidung können die Nutzenden Erklärungen anfordern, bei denen nachvollziehbar wird, auf Grundlage welcher Informationen das gelernte Modell die Klassifikationsentscheidung getroffen hat. Hier werden ausdrucksstarke relationale Erklärungen generiert, die in einfachen Aussagesätzen präsentiert werden (Schmid, 2021; Siebers & Schmid, 2019).
Um ein tieferes Verständnis des Modells aufzubauen, können Nutzende alternativ zu den instanzbasierten Erklärungen auch kontrastive Erklärungen (near miss explanations) anfordern (Rabold et al., 2022). Bei der Generierung der Erklärungen wird berücksichtigt, dass ein sinnvoller trade-off zwischen Detailreichtum und kognitiver Komplexität besteht (Ai et al., 2021). Die Kombination von erklärbarer KI mit interaktivem Lernen wurde bislang kaum methodisch umgesetzt. Insbesondere ermöglicht der entwickelte Ansatz, dass die Nutzenden nicht nur die Klassifikation, sondern auch die Erklärungen selbst korrigieren können. Dadurch fließt zusätzliches Wissen in den Lernprozess ein, die in Form von Constraints für die Modell-Revision genutzt werden können. Wir gehen davon aus, dass diese stärkere Einbindung der Nutzenden auch günstige psychologische Effekte hat. Durch Erklärungen und Interaktion könnten negative Effekte des automation bias (unhinterfragte Akzeptanz von Vorschlägen eines KI-Systems) reduziert und gleichzeitig das Vertrauen in das KI-System sinnvoll kalibriert werden (Schmid, 2023).
Von psychologischer Seite sollte erforscht werden, welche Gestaltungsmerkmale Akzeptanz und Nutzung des Löschassistenzsystems fördern. Darüber hinaus standen auch verschiedene individuelle und organisationale Konsequenzen des Löschens im Fokus – beispielsweise, ob und für wen sich unterstütztes Löschen auf die Leistung und das Vergessen irrelevanter Information auswirken kann.
Zur Untersuchung dieser Fragen wurden mehrere Studien durchgeführt. In einer Experience Sampling Untersuchung (N = 158) ergab sich, dass Personen mit einer hohen Fähigkeit zur Inhibition irrelevanter Information besonders vom (selbstständigen) Löschen störender und irrelevanter Dokumente profitieren. Diese berichteten dann weniger Anstrengung und eine höhere Arbeitsleistung (Göbel & Niessen, 2023a). In einer Metaanalyse wurden die Erfassungsmethoden dieser für die Fragestellung zentralen Fähigkeit weiter thematisiert. Es konnte gezeigt werden, dass sie sich durch ein standardisiertes Laborparadigma (Think/No-Think-Paradigma; Anderson & Green, 2001), nicht aber durch Selbstbericht abbilden lässt (mittlere Korrelation: r = .07; Göbel, Hensel et al., 2022).
Im Anschluss wurde eine Experimentserie (N1 = 60, N2 = 33, N3 = 73) zur schrittweisen Optimierung möglicher Gestaltungsmerkmale von Dare2Del durchgeführt. Es zeigte sich, dass das Vorhandensein von nachvollziehbaren Erklärungen eine wesentliche Rolle spielt und dazu führt, dass bei Nutzenden eine höhere Löschbereitschaft entsteht. Erklärungen helfen auch dabei, das System als glaub- und vertrauenswürdiger zu empfinden – vor allem, wenn diese Erklärungen überprüft werden können sowie bei einer längeren Nutzungsdauer des Assistenzsystems. Sie bewirkten jedoch auch, dass Personen sich intensiver mit den zu löschenden Objekten auseinandersetzten und diese – zumindest kurzfristig – sogar besser erinnerten, statt Entlastung zu erfahren (Göbel, Niessen et al., 2022).
Bezogen auf die Konsequenzen der Unterstützung durch Dare2Del in einer komplexen Arbeitsumgebung ergab sich in einer Laborstudie (N = 95), dass vor allem Personen mit niedriger Fähigkeit zur Inhibition irrelevanter Information durch konkrete Löschvorschläge des Assistenzsystems Dare2Del entlastet werden konnten, während Personen mit höherer Fähigkeit zur Inhibition besser selbstinitiiert löschten (Göbel & Niessen, 2023b).
Die Ergebnisse der Untersuchungen legen nahe, dass es einige allgemeine Aspekte und Merkmale gibt, die bei der Gestaltung von Dare2Del berücksichtigt werden sollten (Erklärungen, Transparenz, Überprüfbarkeit). Eine wichtige Erkenntnis ist gleichwohl, dass Personen sich im Umgang mit komplexen Arbeitsaufgaben voneinander unterscheiden und dass auf die Passung der gewählten Form der Unterstützung ein besonderer Fokus gelegt werden sollte.

Das interaktive lernende KI-System Dare2Del kann genutzt werden, um irrelevante Daten und Dateien zu identifizieren und damit Speicherplatz zu sparen und Mitarbeitende dabei zu unterstützen, digitales Horten zu vermeiden.

Antragsteller/in:
Prof. Dr. Cornelia Niessen
Prof. Dr. Ute Schmid


Managed Forgetting


In der ersten Phase des Projekts wurden große Fortschritte in der interdisziplinären Erforschung des Konzepts des Managed Forgetting für Unternehmensgedächtnisse für die Assistenz der Wissensarbeit gemacht. In Phase 2 wird das Konzept des Managed Forgetting weiterentwickelt mit Schwerpunkt auf der Anwendung im Unternehmensumfeld administrativer Bereiche. Dazu werden die organisatorischen Rahmenbedingungen untersucht und deren Implikationen bei der Einführung des Managed Forgetting für Informations- und Wissensarbeiter in administrativen Szenarien.

Weiterhin verfolgen wir die Entwicklung eines gemeinsamen Modells des menschlichen und digitalen Vergessens für ein tieferes Verständnis der zugrundeliegenden kognitiven Prozesse. In den interdiszipilären Experimenten werden wir auch das bildgebende Verfahren der functional near-infrared spectroscopy (fNIRS) zur Messung kognitiver Belastung einsetzen. Von diesen Erkenntnissen erwarten wir Beiträge für eine erfolgreiche Integration von vergessenden Informationssystemen in die Arbeitsprozesse von Informations- und Wissensarbeitern und für kognitiv-bewusste Methoden des Vergessens.

Ausgangsfragen und Zielsetzung
Ziel des Projekts war die Erforschung von Methoden, die von Modellen der menschlichen Informationsverarbeitung aus der kognitiven Psychologie inspiriert sind und Wissensarbeiterin durch eine „vergessliche“ Technologie bei ihren täglichen Aufgaben unterstützen.
Beschreibung der gesamten Ergebnisse und Erkenntnisse
Das Konzept des Managed Forgetting (MF) – eine evidenzbasierte Routine des absichtlichen Vergessens, die keinen bewussten Willen erfordert – steht im Mittelpunkt der interdisziplinären Untersuchungen und ist vom selektiven und adaptiven Mechanismus des menschlichen Vergessens und seinen Fähigkeiten inspiriert sich auf die wichtigen Dinge konzentrieren. Der Zweck des kontrollierten Vergessens besteht darin, Wissensräume auf das Wesentliche für aktuelle Prozesse zu fokussieren und Prozesse des menschlichen Gedächtnisses und Vergessens zu ergänzen.
Kernresultate, die sich primär Phase I zuordnen lassen, adressieren die Inhibition als neues Konzept zur Unterstützung von Vergessen in Kombination mit Kontext in der Assistenz, prototypische (Weiter-)Entwicklung eines selbstorganisierenden und insb. vergessenden Assistenzsystems zur Unterstützung von Wissensarbeit, die Weiterentwicklung der Ansätze von Memory Buoyancy und Preservation Value, die Anwendung grundlagenwissenschaftlicher Modelle zum Vergessen aus der psychologischen Gedächtnisliteratur auf Fragestellungen der Informatik, die Beeinflussung von problemlösendem Denken durch Manipulationen zur gezielten Hemmung und Aktivierung von Gedächtnisinhalten. Die Informationsbewertung über das Kernkonzept Memory Buoyancy (MB) bildet eine wichtige Grundlage für Managed Forgetting: Wichtige Elemente sollen näher an die Benutzer heranrücken, Inhalte, die an Relevanz verlieren, sich entfernen. Am L3S wurden Methoden zur dynamischen Bestimmung des MB-Werts in verschiedenen Umgebungen untersucht. So wurde eine erwartungsorientierte Methode zur Fotoauswahl aus einer großen persönlichen Sammlung zur Fotokonservierung vorgestellt. Mögliche Methoden des Vergessens sind Kondensierung und Ausblenden. Am L3S haben wir uns auf die Zusammenfassung als spezifische Form der Kondensierung konzentriert. Wir haben eine graphbasierte Methode zur Zusammenfassung evolutionärer Ereignisse aus Social-Media-Streams untersucht. Insb. zur prototypischen Implementierung des „Managed Forgetting“-Ansatzes wurden am DFKI unterstützende bzw. weitergehende Methoden erforscht, z. B. szenario-gerechte Informationsextraktionsverfahren in Echtzeit, Ansätze zu Aufbau und Pflege der benötigten persönlichen bzw. Unternehmens-Wissensgraphen sowie Nutzerkontexten. An der PH Ludwigsburg und an der Universität Trier wurden die Grundlagen verschiedener Phänomene des Vergessens (besonders saving enhanced memory) im Kontext von Anwendungsforschung erkundet.

Ausgangsfragen und Zielsetzung des Projekts
Ziel des Projekts war es, die in Vorprojekten bzw. Phase I des SPP entwickelte Idee des „Managed Forgetting“ weiterzuentwickeln, sowie deren Anwendung in der Praxis – insb. Szenarien der administrativen Wissensarbeit – und Auswirkungen auf den Menschen zu erforschen.
Beschreibung der gesamten Ergebnisse und Erkenntnisse
Inspiriert von Mechanismen der menschlichen Informationsverarbeitung untersuchte das Projekt Methoden, um Wissensarbeiter durch „vergessliche“ Technologie bei ihren täglichen Aufgaben zu unterstützen. Der Zweck des kontrollierten Vergessens besteht darin, Wissensräume auf das Wesentliche für aktuelle Prozesse zu fokussieren und Prozesse des menschlichen Gedächtnisses und Vergessens zu ergänzen.
Kernresultate, die sich primär Phase II zuordnen lassen, sind wie folgt:
Die Evaluation eines Prototypen eines selbstorganisierenden und insb. vergessenden Assistenzsystems zur Unterstützung von Wissensarbeit; der Nutzen konnte sowohl qualitativ als auch quantitativ nachgewiesen werden, es gibt positive Wirkung von Cognitive Offloading auf verschiedene Arten kognitiver Prozesse, Methodenentwicklung für Funktionalitäten im Kontext von Vergessen z. B. Zusammenfassungen, Ranking und variable Sichtbarkeit von Information sowie ein Verständnis der Kontextabhängigkeit von Problemlösen.
In weiteren Arbeiten zur Informationsbewertung hat L3S Merkmale analysiert, die für die Entscheidung über die Bedeutung von Inhalten und die Aufbewahrung von Inhalten in Social-Media-Einstellungen relevant sind (StackOverflow). Zusätzlich schlugen wir Ansätze zum Filtern von Inhalten vor, die für ein aktuelles Nachrichtenereignis relevant sind. Wir führten eine auf Integer Linear Programming (ILP) basierende Optimierungstechnik ein, um Zusammenfassungen von Katastrophenereignissen aus Microblogs zu generieren. Um die Methode zu veranschaulichen und Benutzerfeedback zu sammeln, wurde ein Demosystem entwickelt. Insb. zur prototypischen Implementierung des „Managed Forgetting“-Ansatzes wurden am DFKI unterstützende bzw. weitergehende Methoden erforscht. In Phase II waren dies bspw. Ansätze zur Suche in vergessenden Informationssystemen, Methoden zur synthetischen Datengenerierung, Datenerhebung „im Feld“ und Studien zu Nutzervertrauen in vergessende Informationssysteme.
An der PH Ludwigsburg wurden Studien zur Human-Computer-Interaction neben einem klassischen Interaktionsmodus (tastenbasiert) auch bzgl. ganz neuartiger, effektorfreier Interaktionsmodi über gaze-control devices untersucht und an der Universität Trier neuronale Korrelate des ZNS geprüft.
Nachvollziehbarkeit der Forschungsergebnisse wurden sichergestellt durch einen Mix aus quantitativen und qualitativen Studien, sowohl „im Feld“ als auch unter Laborbedingungen, sowohl Kurz- als auch Langzeituntersuchungen (mehrere Monate); Rückgriff auf existierende Datensätze (sofern verfügbar).

Alle Forschung, Experimente und Erkenntnisse werden in vergessende Methoden sowie in unsere Corporate Memory-Infrastruktur CoMem - als wissensbasiertes System, das den Semantic Desktop als eine methodische wie auch technologische Säule beinhaltet - übertragen, um die Unterstützung der Wissensarbeit in die täglichen Aktivitäten der Nutzer in Unternehmen auf deren Desktop einzubetten.

Daher können Organisationen selbst Erfahrungen mit Managed Forgetting und Selbstorganisation machen, z.B. in Studien, in denen wir auf der Grundlage der oben genannten Ergebnisse und Erkenntnisse neue Methoden zur Unterstützung der Informations- und Wissensarbeit, die auf diesen neuen Technologien basieren, schrittweise verbessern oder einführen.

Beispielsweise hat enviaM bereits ein CoMem-Piloten und wird gemeinsam mit uns die organisatorischen Rahmenbedingungen des Managed Forgetting untersuchen, insbesondere durch die Teilnahme an Anwenderstudien in realen Szenarien, in denen der Pilot derzeit eingesetzt wird.

Antragsteller/in:
Prof. Dr.-Ing. Andreas Dengel
Prof. Dr. Christian Frings
Dr. Claudia Niederée
Dr. Tobias Tempel